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Dienstag, 13. Oktober 2015

Der Tag, an dem ich mein Gewissen fand

Gastbeitrag

Facebook ist schon ein tolles Ding, das ich als persönliches Tor zur Welt nicht mehr missen möchte - seit ich mich vor zwei Jahren intensiver damit befasst habe. Davor waren mir soziale Medien und ihre Portale völlig unbekannt, denn ich gehörte zu den Mail- und Briefeschreibern, etwas später zu den typischen Forennutzern. Gestern erst hat mich eine "alte" Bekannte auf Facebook wiederentdeckt und mir eine FA (Freundschaftsanfrage) gestellt, über die ich mich sehr gefreut und die ich gern angenommen habe. Natürlich habe ich sofort geschaut, was es Neues in ihrer Timeline gibt (das macht man so) und bin prompt über einen zauberhaften Text gestolpert, der mich sehr berührt hat und der super in meinen Traumblog passen würde. Das teilte ich ihr genauso mit und sie war von meiner Idee sofort begeistert. Daraufhin schrieben wir zahlreiche PNs hin und her.

Reden wir nicht lange um den heißen Brei herum: Hiermit kommen alle Zaubertraumleser|innen in den Genuss dieser traumhaften Kindheitserinnerung von meiner geschätzten Autorenkollegin  
Eva Schumacher.






 

Der Tag, an dem ich mein Gewissen kennenlernte

 

Der Tag, an dem ich mein Gewissen kennenlernte ...

Raleigh Chopper, Foto: Dontpanic
Es war Sommer. 1972 um genau zu sein. Ich war sechs Jahre alt, liebte Eis, mein Bonanza Fahrrad, meine blauen Zopfspangen, Susi, meine Puppe (mit der ich nur heimlich spielte, weil ich ja eigentlich ein Junge sein wollte), Mama, Papa, manchmal meine Schwester ... und meinen Kindergarten! Den liebte ich sogar von ganzem Herzen, traf ich doch da jeden Tag meine besten Freundinnen und Freunde. Wir spielten, malten, zankten und vertrugen uns - kurz, wir lebten fröhlich in den Tag hinein. Kein Wölkchen trübte meinen Kinderhimmel, ich war eins mit mir und meiner Welt.
 
Da wir mit Sechs schon „Schulkinder“ und somit „alte Hasen“ waren, fiel uns ab und an die Aufgabe zu, uns um die Kleinen oder Neuen zu kümmern. War auch kein Problem für uns, hatten wir doch so schon mal einen, der uns das Springseil holte, die Jacken an die Haken hing oder sonstige kleinen Botengänge erledigte. Eines Tages rief Tante Liesel Anja, Daniela und mich zu sich, um uns mitzuteilen, dass heute eine ganz besondere Aufgabe auf uns wartete. Sie erzählte, dass heute ein Mädchen zu uns käme, das etwas „anders“ sei. Gundula hieß sie, sei acht Jahre alt und würde einen „Schnuppertag“ bei uns machen. Sie bat uns, ihr alles zu zeigen, sie mitspielen zu lassen und uns um ein bisschen um sie zu kümmern.

Aaacht? Und noch im  K i n d e r g a r t e n ??? Meine Abscheu stand mir bestimmt schon im Gesicht geschrieben, bevor ich Gundula sah.
Kichernd und voller Unverständnis gingen wir zur Schaukel zurück. Nach einiger Zeit entdeckte ich sie und konnte nicht glauben, was ich da sah!
Groß,  r i e s e n g r o ß , mit feuerroten Haaren, dicker fetter Brille und raus hängender Zunge stand sie am Törchen an der Hand ihrer Mutter und stierte uns an. Oh G o t t , so was Hässliches hatte ich mein ganzes Leben noch nicht gesehen!!!

Kinderwippe
Daniela und ich guckten uns angeekelt und ratlos an und wussten wortlos, was wir auf gar keinen Fall wollten... Genau in diesem Moment riss sich Gundula von der Hand ihrer Mutter los, stolperte auf uns zu und leckte uns (es sollten bestimmt Küsse sein) das ganze Gesicht ab. Dazu machte sie Stimmen, die ich nur von „Judy“, dem Affen aus Daktari kannte. Die Mutter kam auf uns zu, lächelte uns an und schien zu denken, wir freuten uns, ihre Tochter kennenzulernen. Tante Liesel beobachte uns auch aus der Nähe, sodass wir keine Chance hatten, uns aus der Affäre zu ziehen. Also zogen wir mit Gundula im Schlepptau in Richtung Wippe los. Die anderen waren logischerweise sehr froh, diesem Kelch entgangen zu sein und schauten uns hämisch und Finger zeigend hinterher. War das peinlich!

Nach einiger Zeit, unsere erwachsenen Beobachter saßen im Büro, fiel mir ein gutes Spiel ein. “Schleudern“ sollte es heißen. Da Gundula die ganze Zeit über sowieso wie eine Klette an mir hing und sabbernd auf mich runter guckte, fragte ich sie hinterhältig, ob sie Lust darauf habe, ein bisschen von mir durch die Gegend geschleudert zu werden. Freudig stimmte sie zu. Ich packte sie an einem Arm, stellte mich in Position und begann mich immer schneller um meine eigene Achse zu drehen. Gundula blieb jetzt nichts anderes mehr übrig als im Kreis zu laufen. Ich wurde schneller und schneller, ihre Brille verrutschte, sie lief (eher trampelte) so schnell sie konnte. Und dann ... dann ließ ich los und sie fiel und stolperte mit ziemlicher Wucht auf den Boden. 

Alle lachten, ich auch. Gundula rappelte sich mühsam auf, keiner half - und doch kam sie mit fröhlichem Gesicht auf mich zugewankt. Sie nahm mich ungeschickt in ihre Arme, drückte mir einen ihrer nassen Leckküsse ins Gesicht und strahlte mich an. Mir wurde ganz mulmig zumute, aber nicht aus Ekel, sondern aus einem Gefühl, welches mir in meinem ganzen sechsjährigen Leben so noch nicht begegnet war. Ich wusste nicht, ob ich mich gut oder schlecht fühlte, ob mir heiß oder kalt war. Nur eins fühlte ich mich nicht - gut. Gundula und ihre Mutter gingen dann nach Hause, doch nicht ohne mir noch einmal zuzuwinken.

Karussell
Der Tag ging ansonsten so weiter wie immer - bis auf mein komisches Gefühl im Bauch. Dauernd hatte ich das Bild vor Augen, als ich Gundula während des Schleuderns losließ. Ich konnte machen was ich wollte, selbst zu Hause während des allabendlichen Sandmännchens, ging dieses komische Gefühl nicht weg. Die Nacht, die dann kam, werde ich nie vergessen! Einschlafen konnte ich nicht, dauernd musste ich an Gundula denken! Wie lieb sie mich doch angeguckt und fest gepackt hatte. Auch mich sah ich vor mir. Wie gemein und fies ich doch war. Ich hatte ihr noch nicht mal beim Aufstehen geholfen! In dieser Nacht erlebte ich das erste Mal bewusst einen Albtraum. Ich weiß noch, dass der Teufel mit den drei goldenen Haaren ganz dicht an meinem Gesicht war, sich freute und sich die Hände rieb. Die restliche Nacht verbrachte ich im Bett zwischen meinen Eltern.

Am nächsten Morgen konnte ich es kaum erwarten, in den Kindergarten zu kommen. Ich hatte mir vorgenommen, wirklich ehrlich nett zu Gundula zu sein und nie mehr über sie zu lachen. Erstaunlicherweise ging es mir nach diesem Vorsatz direkt etwas besser. Als ich am Kindergarten ankam, sah ich, dass ihre Mutter und Tante Liesel an der Tür standen und sich unterhielten. Mir war klar, dass sie auf mich warteten und ich wahrscheinlich nicht mehr in den Kindergarten kommen durfte. Ich machte mich angstvoll auf das Schlimmste gefasst, fand aber auch, dass ich es verdient hatte, rausgeschmissen zu werden.

damals hießen sie noch Negerküsse
Als ich tapfer auf sie zu schritt, sah mich Gundulas Mutter. Sie kam mir entgegen und drückte mich mit Tränen in den Augen an sich. Sie bedankte sich, dass ich gestern so lieb zu ihrem Kind gewesen sei, mich so gekümmert und mit ihr gespielt hätte. Gundula sei auch abends noch glücklich gewesen. Zum Dank schenkte sie mir zu allem Überfluss noch eine große Packung Mohrenköpfe. - Oh Gott, hab´ ich mich geschämt! Merkwürdigerweise enden an dieser Stelle meine Erinnerungen an Gundula. Ich weiß nur noch, dass es hieß, sie sei im Krankenhaus.

Leider sah ich Gundula nicht wieder, doch vergessen habe ich sie nie und vor allem nicht das Gefühl, welches ich später als „Gewissen“ identifizierte. Ich glaube, ich kann sagen, dass ich mich seitdem bemühe, mit diesem im Reinen zu sein, denn eines ist gewiss: Nur ein gutes Gewissen ist ein wirklich(!) ruhiges Ruhekissen!
(Namen lieber mal geändert)

Eva Schumacher


Vielen Dank für diesen wundervollen Gastbeitrag, dessen Text Eva bereits vor zwei Jahren veröffentlicht hat. Eine kleine Geschichte mit einer großen Weisheit - und sogar Träume kommen darin vor. Schaut doch mal in ihrem eigenen Blog vorbei - dort sind noch ganz viele solcher Geschichten älteren Datums zu finden. Wer weiß, vielleicht hat der Beitrag auf dieser Seite Eva inspiriert und sie erweckt ihr seit geraumer Zeit schlummerndes Weblog wieder zum Leben und füllt die Seite mit neuen aufregenden, anregenden und nachdenkenswerten Erlebnissen und Träumen. Es würde sich wirklich lohnen. Und ich wäre bestimmt ein treuer Leser.


Träumt schön!

Traumzauberhafte Grüße, Claudia

6 Kommentare:

  1. Oh, ist das rührend .. ein toller Beitrag.

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    1. richte ich gern aus. Ach, Quatsch, dass kann die Autorin doch selbst lesen und kommentieren. ;)

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  2. Eva Schumacher schrieb mir grad (irgendwie klappt die Kommentarfuktion bei ihr nicht):

    Liebe Claudia, vielen Dank für die Einstellung und die liebevolle und tolle Aufmachung meiner Geschichte!
    Das Bonanza Fahrrad sieht GENAUSO aus wie meins damals und sofort kamen mir wieder die unzähligen Stürze in den Sinn, da ich fast immer den fehlenden Rücktritt vergaß :)
    Daher ähnel ich dem kleinen, sauberen, adretten, süßem Lockenköpfchen auf dem Foto womöglich nicht ganz so sehr;).
    Als ich vor ca. zwei Jahren begann meine „Gedankengänge“ und Erlebnisse aufzuschreiben, tat ich es in erster Linie nur für mich. Ich schrieb einfach munter drauf los und wunderte mich manchmal, was mein Hirn und mein Herz mir alles so diktierten.
    Die Geschichte von Gundula hat sich genau so zugetragen und ich kann sagen, dass es sehr befreiend für mich war sie aufzuschreiben, dicht gefolgt von „Muttertag-Warum meine Mama die beste ist“. Wer möchte, kann diese, und natürlich die anderen, in meinem Blog finden.
    Ich glaube, nein, ich weiß, dass diese Erfahrung im Kindergarten mich gelehrt hat, immer! in erster Linie meinem Gewissen zu folgen-egal was kommt.

    So, ihr Lieben, ich sag' jetzt mal Tschüss und vielleicht bis bald!

    Lieben Gruß, Eva

    P.S. Vielleicht könnt ihr euch ja noch an den Tag erinnern, als euer Gewissen das erste Mal zu euch sprach? Ich wäre sehr gespannt auch eure Geschichte zu erfahren:)

    ...und DANKE für die netten Kommentare!!!

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